Wieviel Mathe braucht der Mensch im Alltag?
Acht Thesen zum allgemeinbildenden Mathematikunterricht.
Zusammenfassung des Textes von Hans Werner Heymann in der Frankfurter
Rundschau vom 28.12.96
- Zwischen gesellschaftlicher und objektiv empfundener Bedeutsamkeit
der Mathematik klafft eine Lücke. Vielen Schülern bleibt
unklar, weshalb sie sich in der ganzen Schulzeit mit diesem Fach
beschäftigen müssen.
- Der Mathematikunterricht muß sich (wie jedes andere
Fach auch) fragen lassen, was er zur Allgemeinbildung beiträgt.
Ein Allgemeinbildungskonzept liefert Kriterien, anhand derer Unterricht
beurteilt und gestaltet werden kann.
- Heymann hat einen Katalog zentraler Aufgaben allgemeinbildender
Schulen unserer Gesellschaft erarbeitet, den er im folgenden einsetzt:
- Lebensvorbereitung: Die durch den Mathematikunterricht
geleistete Lebensvorbereitung wird sowohl über- als auch
unterschätzt. Einerseits verwenden die meisten Erwachsenen
kaum Mathematik über den Stoff von Klasse 7 hinaus. Andererseits
werden oft wichtige Qualifikationen wie Schätzen, Überschlagen,
Interpretieren und Darstellen von Daten, Handhabung technischer
Dinge wie Taschenrechner und Computer vernachlässigt. Sie
sollten häufiger und intensiver thematisiert, reflektiert
und geübt werden.
- Stiftung kultureller Kohärenz: Mathematik ist
ein Kulturgut. Schüler sollen Mathematik als eine Art des
Denkens und Problemlösens von universeller Wirksamkeit erfahren
können. Zentrale Ideen, in denen sich Mathematik und außermathematische
Kultur verbindet, sind Zahl, Messen, funktionaler Zusammenhang,
räumliches Messen, Algorithmus, Modellbildung.
- Weltorientierung: Mathematik dient zur Deutung und
Modellierung der Welt, zum besseren Verständnis und zur Beherrschung
von nicht-mathematischen Problemen.
- Denkenlernen und kritischer Vernunftgebrauch: Paradoxerweise
ist Mathematik das Fach unverstandenen Lernens schlechthin.
An unverstandener Mathematik läßt sich aber weder
alltägliches noch mathematisches Denken schulen. Die Schüler
sollen konstruierend und analysierend denken (lernen).
- Soziale und subjektive Momente des Mathematiklernens:
Die allgemeinbildende Qualität des Lernens ist nicht nur
vom Stoff abhängig, sondern auch von der Art, wie im Unterricht
mit dem Stoff und miteinander umgegangen wird, von der Unterrichtskultur.
Es ist bedenklich, die fachliche Dimension von der sozialen Dimension
abzuspalten.
Was Anstoß und große öffentliche Aufmerksamkeit
erregte, sind zwei nur relativ kurze Passagen, die zum Teil recht
verfälscht wiedergegeben wurden:
Empirische Untersuchungen stellten fest, daß die
überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in ihrem Alltag
keine Mathematik verwendet, die über Dreisatz, Prozentrechnung,
Zinsrechnung hinausgeht.
Konsequenz: Für eine angemessene Lebensvorbereitung
wird eine äußere Differenzierung ab Klasse 9
vorgeschlagen: Eine Mehrheit der Schüler, die später
wahrscheinlich keinen mathematikintensiven Beruf ausüben
werden, in "Grundkurse" und eine Minderheit späterer
Mathematiker (im weiteren Sinne) in "Leistungskurse".
Dabei soll in der S I für die Mehrheit die fachliche Systematik
gelockert und auf derzeitige Standardthemen verzichtet werden.
Stattdessen steht eine Vertiefung alltagsnaher Mathematik im Vordergrund
und ein kreativer Umgang mit Computern; Mathematik soll problembezogen
unterrichtet werden.
In der S II soll in den Grundkursen sozialwissenschaftlich orientierte
Statistik unterrichtet werden statt Analysis und Linearer Algebra.
© Elschenbroich,
Mathe-Werkstatt 03/2001