Enzensberger zu Mathematik und Sprache

Dazu kommt, daß die Mathematiker nicht nur, wie andere Wissenschaftler über eine eigentümliche Fachsprache, sondern auch über eine Notation verfügen, die sich von der gewohnten Schrift unterscheidet und die für ihre Binnenkommunikation unentbehrlich ist. (Auch hier kann man von einer Analogie zur Musik sprechen, die ebenfalls ihren eigenen Code ausgebildet hat.) Nun geraten aber die meisten Menschen, kaum daß sie einer Formel ansichtig werden, in Panik. Schwer zu sagen, woher dieser Fluchtreflex rührt, der wiederum den Mathematikern unbegreiflich ist. Sie sind nämlich der Ansicht, daß ihre Notation wunderbar deutlich und jeder natürlichen Sprache weit überlegen ist. Deshalb sehen sie gar nicht ein, weshalb sie sich die Mühe machen sollten, ihre Ideen ins Deutsche oder ins Englische zu übersetzen. Ein solcher Versuch käme in ihren Augen einer. schrecklicher Verballhornung gleich.

H. M. Enzensberger: Zugbrücke außer Betrieb. FAZ vom 29. August 1998

 

© Elschenbroich, Mathe-Werkstatt 03/2001