Reflexive Koedukation

In einer Längsschnitt- und in einer Querschnittuntersuchung von E. Frank im Großraum Stuttgart zeigte "eine Benachteiligung der Mädchen in Mathematik, für die Fächer Physik und Informatik sind die Ergebnisse völlig desolat." ...
"Zu Beginn des Schulversuchs Physik war in jeder einzelnen der befragten Klassen Physik für die Mädchen das uninteressanteste Schulfach. Dass sich darüberhinaus überdurchschnittlich viele Schülerinnen und Schüler den Anforderungen des Physikunterrichts nicht gewachsen sehen, wird von den meisten Physiklehrkräften als unabänderlich in Kauf genommen. ... Bei keinem anderen Schulfach klaffen die dem Fach zugeschriebene hohe gesellschaftliche Relevanz und die Abwendung der Jugendlichen von Fach derart auseinander. "
Der 1993 - 1995 in 20 Klassen der Stufen 10 und 11 durchgeführte Schulversuch ging von folgenden Prämissen aus:
"1. Veränderung von Schule im Sinne einer Schule der Chancengleichheit muss bei beiden Geschlechtern ansetzen.
2. Nicht die Mädchen sind defizitär, sondern der Physikunterricht, wie er überwiegend praktiziert wird, ist defizitär.
3. Alles, was den Mädchen nützt, nützt auch den Jungen, nur umgekehrt gilt das nicht.
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Mädchen finden zwar das Schulfach Physik uninteressant, viele Fragestellungen der Physik dagegen durchaus interessant. Sie möchten zum Beispiel wissen, wie ein Regenbogen oder Himmelsfarben entstehen, wie der Wärmehaushalt der Tiere funktioniert, wie Wolken und Niederschläge oder die Phasen des Mondes zustande kommen. Nicht Naturbeherrschung, sondern Naturerkundung macht den Reiz dieser Themen aus. ... Dafür greift die Fragestellung 'wie funktioniert?' für fast alle Mädchen und viele Jungen zu kurz. ...
Frontalunterricht kam in die Schublade 'patriarchalisch' und sollte nach Möglichkeit vermieden werden. Kooperative Lernformen, die den Stärken der Mädchen entgegenkommen, wurden bevorzugt. Man knüpfte an Kompetenzen der Mädchen an wie Verbalisierungsvermögen und ein besser entwickeltes Körpergefühl. ...
Bei einem Teil der Schulversuchsklassen wurde durch das Zusammenfassen von Mädchen und Jungen aus zwei Parallelklassen die Koedukation jeweils für ein halbes Jahr pro Schuljahr aufgehoben.
In der teilweise monoedukativen Schulversuchsgruppe verschwanden sämtlich zuungunsten der Mädchen vorhandenen Unterschiede, und die Mädchen zogen mit den Jungen gleich. Ihr Interesse an Physik stieg von Platz 14 auf Platz 5. Ebenso wuchs ihr Zutrauen in die eigene Leistungsfähigkeit. ...
Mädchen und Lehrkräfte waren sich einig, dass die zeitweilige Aufhebung der Koedukation im Gesamtpaket des Schulversuchs für die Mädchen ein großer Gewinn war, und sie künftig das Fach Physik ganz oder teilweise monoedukativ wollen. Alle Lehrkräfte hatten bisher nur koedukative Erfahrungen und konnten in der Mädchengruppe Kompetenzen und Qualitäten der Mädchen entdecken, die ihnen bisher aufgrund der im Unterricht vorpreschenden Jungen verborgen geblieben waren. ...
Von allen am Schulversuch Beteiligten wurde der in den reinen Mädchen- und Jungengruppen geschärfte Blick für deren unterschiedliche Bedürfnisse, Schwächen und Stärken als besonders gewinnbringend für den koedukativen Unterricht angesehen."

 

© Elschenbroich, Mathe-Werkstatt 03/2001