Reaktionen: Ursachenforschung und Schuldzuweisung

Kommentare und Reaktionen erfolgten u.a. in der Rheinischen Post vom 27.2.97:
Für die CDU lag es an der "ruinösen Schulpolitik der SPD in den vergangenen 30 Jahren".
In der Reaktion des Schulministeriums NRW war man dagegen "überzeugt, dass die Unterschiede zwischen Bayern und NRW weder etwas mit der Lehrerausbildung noch mit den Lehrplänen zu tun haben. Ministeriumssprecher Neuser erklärte, auch an unterschiedlichen Schulformen könne es nicht liegen, da Schüler aller Schulformen untersucht worden seien. Der Unterrichtsumfang in der Sekundarstufe I (fünfte bis zehnte Klasse) sei in NRW und Bayern ebenfalls etwa gleich. Allerdings gebe es größere Unterschiede in der Grundschule. In den ersten vier Schuljahren hätten die bayrischen Schüler deutlich mehr Unterricht als jene in NRW - insgesamt mehr als ein halbes Jahr. Möglicherweise setze sich dieser Vorsprung in den folgenden Jahren fort. ...
Neuser betonte, dass seines Erachtens die Rückständigkeit der gesamten Bundesrepublik im internationalen Vergleich alarmierender sei als der Unterschied zwischen Bayern und und NRW. ... Besonders aufschlussreich sei eine Video-Untersuchung des Mathematikunterrichts in Japan, Deutschland und den USA. Während in Deutschland und den USA der Lehrer im allgemeinen die Lösung demonstriere und dann geübt werde, sei der japanische Unterricht sehr viel kreativer und besser auf die individuellen Fähigkeiten der Schüller zugeschnitten. Für Neuser liegt daher der Schluss nahe, dass hierzulande 'mit der Mathematik-Didaktik was nicht stimmt'. Das erkläre freilich keine Unterschiede zwischen Bayern und NRW."


Der Präsident des deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus bot in einer Presseerklärung vom 18.3.97 als Erklärungsansätze für die bundeslandspezifischen Unterschiede folgende Hypothesen an:
bullet"Das Leistungsprinzip wird in den Bundesländern unterschiedlich stark gewichtet. Die Tendenz zur "notenfreien Spaßschule" in manchen Ländern widerspricht aber der auch von der Studie als wichtig angesehenen "Bereitschaft zur Anstrengung".
bulletIn Bundesländern mit starker Betonung des Eignungsprinzips beim Zugang zu weiterführenden Schulen wie in Bayern erbringen die Schüler aller Schularten höhere Leistungen als in Ländern, wo der Übertritt ausschließlich vom Elternwillen abhängt.
bulletBundesländer mit hohen Abiturientenquoten vermehren zwar die Zahl formal höherer Abschlüsse, senken aber in allen Schularten das Niveau.
bulletBundesländer wie Bayern mit explizit fachspezifischer Orientierung erbringen höhere Leistungen als Bundesländer, in denen Projektunterricht und sogenannte Lernbereiche überwiegen. Die TIMSS-Studie stellt dazu selbst richtig fest, "daß Schlüsselqualifikationen nicht direkt erwerbbar oder gar vermittelbar sind, sondern der Weg zu ihnen über den mühsamen Aufbau einer breiten und gut vernetzten Wissensbasis in spezifischen Wissensdomänen führt ... ."

Der Präsident der Arbeitsgemeinschaft Bayerischer Lehrerverbände, Hermann Sauerwein ergänzte in der gleichen Presseerklärung:
"Obwohl sie es nicht explizit zugibt, beweist die TIMSS-Studie die Überlegenheit eines leistungsorientierten Schulsystems über Länder, die inhaltliche Standards der Beliebigkeit preisgegeben haben. Wenn Bayern geringere Abiturienten- und höhere Hauptschulquoten als andere Bundesländer hat, dann heißt es nicht, daß die bayerischen Schüler dümmer sind, sondern daß hier die Qualitätsmaßstäbe noch stimmen." Er forderte andere Bundesländer auf, sich an bayerischen Standards zu orientieren. Dazu gehörten zentrale Abschlußprüfungen für die Zuerkennung folgender Abschlüsse: Qualifizierter Hauptschulabschluß, Realschulabschluß, Fachhochschulreife und Allgemeine Hochschulreife. Sauerwein äußerte angesichts der TIMSS-Ergebnisse die Vermutung, daß viele außerbayerische Realschüler und Gymnasiasten wohl Schwierigkeiten hätten, den leistungsorientierten "Qualifizierten Hauptschulabschluß" in Bayern zu schaffen.


Zwei typische Leserbriefe gab es in der Rheinischen Post am 17.3.97:
"Hierzulande wird Gleichmacherei auf niedrigem Niveau betrieben. Gesetze sorgen dafür, dass unter 26 Schülern der neuntschlechteste keine Fünf bekommen kann, weil ihn der Drittel-Paragraph (so ein leistungshemmender Unfug) davor schützt. In diesem Bundesland wird der Wille zur Leistung höher eingestuft als die effektiv erbrachte Leistung eines Schülers. In diesem Bundesland sind die Mathematikbücher der Realschule seit 25 Jahren um etwa 25 Prozent der Inhalte befreit worden, ohne dass irgendein anderer Stoffbereich hinzugekommen ist. ..., wenn in Lehrerkollegien die opportunistische Formel 'Auch ohne Mathematik kann man ein guter Mensch werden' die Runde macht, wenn Schulen mit Adventsbazaren oder Theateraufführungen um die Gunst der Öffentlichkeit buhlen statt mit dem Bestreben, die besten Mathematiker der Region zu erzeugen, dann kommt man der Ursachenbeschreibung von Defiziten im Fach Mathematik schon näher. Solange 'Leistungsbereitschaft' auch unter Lehrern in NRW eher als ein Schimpfwort denn als erstrebenswerte Tugend angesehen wird, ist es um den Industriestandort Deutschland schlecht bestellt." (H. Scheffler)

"Ich selber bin Mathematiklehrer, habe fünf Jahre an einem Münchener Gymnasium unterrichtet bevor ich 1993 an eine Düsseldorfer Schule wechselte. Tatsache ist, dass in Bayern mehr Geometrie gelehrt wird, dass die Schüler die 'Handwerkszeuge' zu beherrschen lernen und relativ schnell rechnen können. Stures Pauken steht dabei im Vordergrund. Die Richtlinien in Bayern sind geändert worden, so dass der Beweis im Mathematik-Unterricht in Bayern nicht mehr verbindlich vorgeschrieben ist. Für die Schüler heißt das: Regeln lernen ohne Herleitung!? Wenn man die bayrischen Abituraufgaben verschiedener Jahrgänge vergleicht, ist es nicht verwunderlich, dass auch in der Oberstufe das Üben von Lösungsschemata im Vordergrund steht. Denn selbstverständlich wird auch hier das Beweisen oder Herleiten in den Jahr für Jahr sich sehr stark ähnelnden Aufgaben so gut wie nie verlangt. Jeder, der als Kollege in NRW schon einmal Abiturvorschläge ausarbeiten musste, weiß, dass hierzulande gerade das selbständige Erarbeiten eines Lösungsweges ein wesentlicher Bestandteil der Prüfungsaufgaben bzw. des Mathematikunterrichts ist." (Dr. M. Hager)

 

© Elschenbroich, Mathe-Werkstatt 03/2001