Zur Lehrerbildung im Fach Mathematik


Die Ergebnisse der TIMS-Studie haben Anlass gegeben, über den Mathematikunterricht und seine grundlegende Konzeption nachzudenken. Das war nötig und ist gut so. Es werden jetzt auch von der Politik Mittel bereitgestellt für weiterer empirische Untersuchungen und für die Entwicklung didaktischer Konzepte. Was aber noch weitgehend brachliegt, sind Überlegungen und Maßnahmen zur Qualifizierung der Mathematiklehrer, die zu einem umfassenden Bildungskonzept führen, das Ausbildung an der Hochschule, Ausbildung im Studienseminar und Fortbildung verzahnt. Hierzu möchte ich ein paar provokante Gedanken [1] beitragen, die vielleicht etwas NRW-geprägt [2] sein mögen.

Wie vollzieht sich die typische Sozialisation eines Mathematiklehrers?

Nach dem aus der Schülerperspektive erlebten Mathematik-Unterricht kommt das Mathematik-Studium, dann die Referendarszeit und dann die Tätigkeit als Lehrer. Das Bild von Mathematik und Mathematiklehrersein ist im wesentlichen geprägt von der eigenen Schulzeit und dem Studium. Nach einer kurzen Phase der Referendarzeit, in der man Stunden eher nach dem (vermeintlichen) Geschmack des Fachleiters und Hauptseminarleiters konzipiert, steht man als angeblich ‚fertiger’ Lehrer vor der Klasse. Man macht hinter sich die Türe zu und versucht drinnen zu überleben so gut es geht, wobei sich häufig problematische Strategien herausbilden. Die Erinnerung an die eigene Schulzeit ist dabei sehr schnell prägender als die Referendarsausbildung.         

Was tragen die Institutionen in der Lehrer-Ausbildung und -Fortbildung zur Qualifizierung bei?

§         In der ersten Phase der Lehrerausbildung die Hochschulen: in der Regel wenig.       
Es wird (zu) häufig noch eine Fach-Vorlesung im Stile der 70er Jahre gehalten, Didaktik spielt
bis auf wenige Ausnahmen eine Nebenrolle. Bei den Hochschulen gibt es in der Regel in den Mathematik-Fachbereichen über Jahrzehnte hinweg eine Geringschätzung der Lehramts-Klientel, verbunden mit einer Ignoranz gegenüber der Fachdidaktik. Mittlerweile werden zwar durchweg Schulpraktika durchgeführt, aber oft unzureichend begleitet und isoliert und völlig folgenlos. Eine Zusammenarbeit mit Schule und/ oder Studienseminar findet in der Regel nicht statt. 
Dass in letzter Zeit die Hochschulen noch die Lehrerfortbildung für sich als Bereich entdeckt haben, hat nichts damit zu tun, dass auf einmal das Herz für die Didaktik höher schlägt, sondern dass durch den Studentenrückgang viele Studiengänge und infolgedessen auch viele Lehrstühle und Stellen an den Hochschulen bedroht sind.

§         In der zweiten Phase der Lehrerausbildung die Studienseminare: nur punktuell.  
Sie haben erst einmal damit zu tun, das bei den Referendaren vorhandene Bild von Mathematik und Mathematiklehren/ Mathematiklernen aufzubrechen, damit Erkenntnisse der Lernpsychologie überhaupt zur Anwendung kommen können. Auch ist höchst fraglich, ob die Aus­richtung auf wochenlang vorbereitete Einzelstunden eine Berufstätigkeit als Lehrer angemessen vorbereitet. Insbesondere ist der Einfluss der Studienseminare zeitlich sehr begrenzt, in der wichtigen Berufsanfangsphase ist der junge Lehrer auf sich allein gestellt.

§         In der Phase des Lehrerseins die amtlichen und freien Institutionen der Lehrerfortbildung: in Form der weitgehend üblichen überschulischen Veranstaltungen nur wenig.       
Sie wenden sich an den Kreis der Interessierten, die es am wenigsten nötig hätten; diejenigen, bei denen Fortbildung am dringendsten nötig wäre, kommen nicht dorthin.
Die Lehrerfortbildung hat sich zu einem Biotop für Interessierte entwickelt, eine Breitenwirkung wird nicht in erforderlichem Maße erreicht. Diejenigen, die einen solchen Fortbildungskurs absolviert haben, sind an der Schule mit ihrem neuen Wissen, neuen Methoden isoliert und werden von den Kollegen oft noch als Unterrichtsflüchtling betrachtet, der ihnen nur Vertretungsstunden beschert hat.           
Regelmäßige schulinterne Lehrerfortbildungen mit dem ganzen Kollegium oder dem ganzen Fachkollegium sind seltene Ausnahmen anstatt der Normalfall.      
Das Landesinstitut schließlich hat als Ziel nicht den einzelnen Lehrer, sondern die Ausbildung von Moderatoren und ist dadurch relativ weit vom Schulalltag abgekoppelt.

§         Die institutionalisierte Weiterbildung in Form von Qualifizierungsmaßnahmen für fachfremde Lehrer: kaum etwas.       
Einjährige Qualifizierungskurse für fachfremde, meist mathematik-ferne Lehrer erzeugen den fatalen Eindruck, dass es nicht einer jahrelangen Ausbildung bedürfe, dass die fachliche und fachdidaktische Ausbildung in einem Crash-Kurs mit wenigen Wochenstunden vermittelt werden könne. Das ist illusorisch.
Nach Beendigung des Kurses werden die Kollegen mit einem Zertifikat versehen alleine gelassen, eine qualifizierte und qualifizierende Betreuung findet nicht statt.

§         Die Schulaufsicht: in der Regel wenig.       
Die Dezernenten sind dafür völlig überlastet, die Fachberater sind hauptsächlich Fachberater der Dezernenten [3], nicht der Kollegen und Kollegien. Das Genehmigen oder Zurückschicken von Abituraufgaben oder das Bearbeiten von Widersprüchen der Eltern trägt jedenfalls nichts zur Qualifizierung bei, wirkt manchmal sogar kontraproduktiv. Der Unterrichtsbesuch des Dezernenten bei der Verbeamtung und ev. noch bei Bewerbungen auf Beförderungsstellen dient der Beurteilung und ist eine ebenso gefürchtete wie isolierte Aktion. Eine gezielte Beratung und Förderung im Sinne moderner Personalplanung ist damit in der Regel nicht verbunden.

§         Die Schulpolitik: praktisch nichts.       
Bei aktuellen öffentlichkeitswirksamen Themen (z. B. TIMSS, Qualitätsvergleich NRW-Bayern) wird hektisch Aktivität demonstriert, gelegentlich Papier produziert. Mit der Produktion von Broschüren für eine bessere Aufgabenkultur wird jedenfalls an den Schulen kaum etwas bewirkt, selbst dann, wenn deren Lektüre vorgeschrieben wird. Es ist keinerlei Gesamtkonzept auf politischer Ebene erkennbar und auch keine Bereitschaft, dies in angemessener Weise zu organisieren (wer Qualität will, muss Entlastung schaffen statt weiterer Belastung und Lehrerschelte) und zu finanzieren (Qualität hat ihren Preis. Derzeit geht Bildungspolitik [4] aber immer noch dem Motto „Wir können nicht gut, wir können nur billig!“). 1999 stand beispielsweise im Haushalt des Landes NRW die stolze Summe von 110 DM pro Lehrer und Jahr zur Verfügung! Eine sich derzeit andeutende Kehrtwende ist unter dem Diktat leerer Kassen recht zaghaft.

Fazit

Wer sorgt dann für die Qualifizierung der Lehrer? Hauptsächlich der einzelne Lehrer selber! Dabei ist er weitgehend auf sich gestellt. Viele Kollegen nehmen das aber sehr ernst und investieren enorm viel Anstrengung, Zeit und Geld, was in vielen Fällen nicht angemessen gewürdigt, geschweige denn honoriert wird.

Vision ...

An den Schulen ist mittlerweile das „Lernen lernen“ zu einem geflügelten Wort geworden. Bezeichnenderweise spricht man nicht vom „Lernen lehren“ und erst recht nicht vom  „Lehren lernen“. Das vielstrapazierte lebenslange Lernen bedeutet für den Lehrerberuf aber lebenslang Lehren lernen und lebenslang Lernprozesse initiieren.

?   Dazu muss zum einen das festgefahrene Bild von Mathematik und Mathematiklehren/ Mathematiklernen verändert werden und es müssen begleitende Qualifizierungsprozesse selbstverständlich werden.

?   Dazu müsste an den Hochschulen Fachdidaktik selbstverständlicher und respektierter Bestandteil werden.

?   Dazu müsste es engere Verzahnungen von Studienseminaren und Hochschulen mit gemein­sam organisierten Schulpraktika und Didaktik-Lehraufträgen an qualifizierte Fachleiter.

?   Dazu müssten die Studienseminare sowohl stärker in die universitären Schulpraktika als auch in die Fortbildung, vor allem die Betreuung in der Zeit der Berufsanfangsphase einbezogen werden.

?   Dazu müsste an den Schulen das früher in den Volksschulen vorhandene Mentoren-System wiederbelebt werden. Besonders geeignete Fachlehrer betreuen dabei intensiv (bei entsprechender Entlastung!) einen Referendar in der Schule. Diese Mentoren könnten in die Fachseminar-Sitzungen integriert werden, damit würde automatisch sowohl ein Teil Fortbildung seitens des Seminars geleistet als auch eine Qualifizierung für zukünftige Fachleiter-Tätigkeit (was bislang völlig brachliegt).

?   Dazu müsste die Lehrerfortbildung sowohl mit Hochschulen als auch mit Studiensemi­naren verzahnt werden. Sie müsste sich aus dem Biotop der freiwilligen Teilnahme auf überschulischer Ebene (zumindest teilweise) lösen und regelmäßige schulinterne Fortbildungen für ganze (Fach-Kollegien) bis hin zum individuellen Coaching ermöglichen.

?   Dazu müsste die Fachaufsicht sich aus ihrem preußischen Selbstverständnis lösen und von der gefürchteten Kontrolle zur erwünschten Hilfe und Beratung werden.

?   Dazu müssten von Schulleitung und Schulaufsicht gezielt moderne Techniken des Personalmanagements genutzt werden.

?   Dazu müsste die Bildungspolitik ein Gesamtkonzept von Lehrerbildung entwerfen und umsetzen. Bildungspolitik ist dabei viel mehr als Schulpolitik im engeren Sinne, dazu gehört z.B. auch ein Teil Finanzpolitik. Denn die Schulen bräuchten jährlich in ernstzunehmenden Umfang Mittel für die Qualifizierung ihrer Kollegien, die sie auch ausgeben müssten. Wenn die Schulen dann für allgemein pädagogische, fachliche oder indi­viduelle Qualifizierung Mittel haben und ausgeben können, werden sich auf der anderen Seite entsprechende Angebote von Hochschulen, Seminaren, amtlichen und privaten Lehrerfortbildungsorganisationen ausbilden. Diese müssten dann sich zu Teilen über diese Mittel auch wieder finanzieren (egal ob das in Gutschrift von Geld oder Stellen­anteilen erfolgt), auch die Institutionen der amtlichen Lehrerfortbildung!

?   Im übrigen: Qualifizierung braucht Zeit und muss sich lohnen. Man kann nicht mit dem Blick auf die Wirtschaft sagen, dass der Lehrer sich (in seiner zunehmend verknappten) Freizeit fortbilden solle, ihn dann aber nicht entsprechend besser honorieren und Beförderungen fast durchgängig nur mit Verwaltungstätigkeiten verbinden.

... und Realität

Nach den bisherigen Erfahrungen besteht eigentlich wenig Anlass zur Hoffnung. In der letzten Zeit wird nun zunehmend über die Qualität des Mathematik-Unterrichts und der Lehrerausbildung nachgedacht. Der kürzlich erschienene Bericht ‚Perspektiven der Lehrer­bildung in Deutschland’ ist ein herausragendes Beispiel.          
Offensichtlich stehen auch gravierende organisatorische Änderungen in der Hochschulstruktur und teilweise auch in der Seminarstruktur an. Ob die Änderungen alle im Selbstlauf sich zum Positiven wenden, kann sicher bezweifelt werden. Aber wenn etwas geändert werden kann, dann jetzt. Vielleicht ist ja doch die Zeit reif ...       


[1] Bei allen kritisierten Punkten gibt sicher positive Gegenbeispiele, aber sie prägen nicht das Gesamtbild.

[2] Der Verfasser ist in der Lehrerausbildung als Fachleiter tätig und verfügt über langjährige Erfahrung als Moderator in der Lehrerfortbildung und als Fachberater in der Schulaufsicht.

[3] Hier wäre auch eine freie Tätigkeit als Berater, sowohl für einzelnen Kollegen als auch für ganze Fachkollegien denkbar. Schließlich gibt es neben dem Finanzamt ja auch freie Steuerberater.      
Hier müssten dann im Schuldienst aber sinnvolle Kombinationsmöglichkeiten, z.B. in Form von Teilzeitbeschäftigung als Lehrer und derartiger Fachberatung daneben möglich gemacht werden, weil eine derartige Beratungskultur noch nicht existiert und erst mühsam aufgebaut werden muss.

[4] Insofern ist Bildungspolitik weit mehr als Schulpolitik, nämlich auch Finanzpolitik.

 

Literatur

§         Elschenbroich, H.-J.: Gedanken zur Mathematik-Lehrerbildung.
In: MNU 54/3, 15.4.2001, S. 131

§         http://www.mathe-werkstatt.de/didaktik/lehrbild.htm

§         Terhart, E. (Hrsg.): Perspektiven der Lehrerbildung in Deutschland. Abschlussbericht der von der Kultusministerkonferenz eingesetzten Kommission.  
Beltz Verlag, Weinheim und Basel.

 

Veröffentlicht in: Mitteilungen der GDM Nr. 72, Juni 2001


© Elschenbroich, Mathe-Werkstatt 06/2001