Die Analysis ist das Gebiet der S II-Mathematik, das sich derzeit am stärksten im
Umbruch befindet. Mühsam hat man in der Regel von einer
axiomatisch orientierten Betonung der Grundlagen (Epsilon-Delta-Kalkül) Abstand genommen.
In den 70-er Jahren wurde (ohne dauerhafte Resonanz) von H. Karcher in Anlehnung an Lipschitz versucht, einen grenzwertfreien
Zugang zu 'gutartig' stetigen und differenzierbaren Funktionen zu entwickeln. Dieser Ansatz wird heutzutage
noch mit Computerunterstützung von H. Möller in Münster weiter verfolgt.
Derzeit wird mehr ein weniger formales Herangehen nach der guten alten
'h-Methode' zusammen mit einer anwendungsbezogenen Betonung des Aspekts der
Änderungsrate bevorzugt.
Die Entwicklung und Verbreitung der Computeralgebrasysteme
und CAS-Taschenrechner wie dem TI 92, mit Einschränkungen auch bei
Graphik-Taschenrechnern wie dem TI 83 rüttelt jetzt gewaltig an den Grundfesten der
Kurvendiskussions-Analysis. Vieles an Fertigkeiten, die bisher im Abitur abgefragt wurden
wie Termumformen, Gleichungslösen, Differenzieren, Integrieren, Kurven zeichnen wird davon
besser und schneller erledigt.
Hatte der Graphik-Taschenrechner schon das Zeichnen von Funktionsgraphen
trivialisiert, so werden nun auch Differenzieren, Integrieren und Gleichungslösen zu Basisoperationen.
Die Frage, wie man mit diesen neuen Werkzeugen umgehen muss und
welche Auswirkungen das auf den Analysis-Unterricht hat, beherrscht die aktuelle Diskussion.
Erste Erfahrungen liegen vor (siehe ComputerAlgebraSysteme), Schulversuche werden in verschiedenen Bundsländern
durchgeführt.
Parallel und ergänzend zu den Überlegungen zum Einsatz von
Computeralgebrasystemen gibt es Bestrebungen, den formalen Aufwand in der Analysis
zurückzufahren und für die Schüler einsichtige und naheliegende Grundvorstellungen
zu entwickeln (z. B. Blum/ Kirsch).
Ein weiterer (damit teilweise zusammenhängender) Aspekt ist, in welchem Maße und in
welcher Weise Anwendungsaufgaben in der Analysis Einzug halten sollen. Dies ist
im real existierenden Mathematik-Unterricht immer noch ein Sorgenkind. Die
'Anwendungen' sind meist (wenn sie überhaupt vorkommen) nur dürftig kaschierte
eingekleidete Aufgaben. Wenn es sich um echte Anwendungen handelt, wird dagegen
das Problem schnell zu komplex. Hier einen sinnvollen und praktikablen Weg zu
finden, ist noch eine erhebliche Aufgabe. Auf dem Weg dahin sind vor allem
von der MUED und H. Böer verschiedene Projekte vorgestellt worden, die den Analysis-Unterricht beeinflusst haben
(am bekanntesten ist wohl die Milchtüte).
Es deutet sich jedenfalls insgesamt an, dass das Entwickeln von Grundvorstellungen, das Begründen, das Nachdenken über das eigene mathematische Tun, das Modellrechnen in Zukunft einen erheblich größeren Stellenwert erhalten werden, vielleicht sogar der mathematische Aufsatz zu neuen Ehren kommt.
© Elschenbroich, Mathe-Werkstatt 10/2007