Mittlerweile ist es zwar schon zum pädagogischen Allgemeinplatz geworden, dass man
das 'Lernen lernen' müsse, aber dies hat bisher nur schwachen Niederschlag in der
schulischen Praxis gefunden.
Dass man aber auch das Lehren lernen muss, ist noch viel weniger unter Mathematikern und
Mathematiklehrern verbreitet. Fachliche Richtigkeit und logische Exaktheit des Lehrstoffes
werden meist als hinreichend für den Lernerfolg der Schüler erachtet. Auch wenn
es als Lerntheorie nicht (mehr) so formuliert wird, entspricht dies doch
noch der inneren Einstellung des Großteils der Mathematiklehrer.
Dies ist sicher auch nicht zufällig so,
sondern Ergebnis der meist pädagogisch katastrophalen universitären Lehrerausbildung
(lobenswerte Ausnahmen gibt es immer).
In der Biokybernetik ist es eine gängige Ansicht, dass in der Kommunikation zwischen
Sender und Empfänger die Bedeutung der Botschaft durch den Empfänger bestimmt wird
(Heinz von Foerster nennt es das hermeneutische Prinzip).
In der Lerntheorie hat sich in der 'kognitiven Wende' der siebziger Jahre weitgehend der lernpsychologische
Konstruktivismus durchgesetzt: Lernende bauen ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten aktiv
und eigenständig auf. Wissen kann nicht durch den Nürnberger Trichter oder durch Predigten im
Sinne der Sonntagsschulen erworben werden, es muss vom Lernenden aktiv aufgebaut und in ein
bestehendes Netz integriert werden.
Einerseits ist dies schon ein lernpsychologischer Allgemeinplatz geworden, andererseits hat dies
in der Praxis kaum Niederschlag im Unterricht gefunden. Die meisten Lehrer führen
ihren Unterricht so, als wäre es möglich, Wissen direkt weiterzugeben.
Am weitesten fortgeschritten ist wohl die Grundschuldidaktik
(aktives Lernen, das Dortmunder Projekt 'mathe 2000' von Wittmann und Müller), während die
größten Defizite im Bereich der Gymnasiallehrer zu orten sind.
Spätestens durch F. Vester (Denken, Lernen, Vergessen) ist akzeptiert, dass es verschiedene Lernertypen gibt. Vester entwickelt eine Typologie von Lerngruppen: visueller Sehtyp, auditiver Hörtyp, haptischer Fühltyp, verbal-abstrakter Typ und Gesprächstyp. Auch wenn die gelegentlich als pseudowissenschaftlich angesehen wird, können viele Schülerprobleme darauf zurückgeführt werden, dass die Denkmuster des Schülers mit den Denk- und Abfragemustern des Lehrers nicht über einstimmen. Die Schule benutzt vorwiegend den verbal-abstrakten Ansatz, vernachlässigt andere Kanäle und Assoziationshilfen und bewirkt oft zusätzlich Lernblockaden durch Angst und Stress. Vester spricht dabei von der 'Katastrophe der schulischen Praxis'.
Methodische Tipps für Lehrer und Eltern oder Schüler gibt es mittlerweile zuhauf,
finden aber bisher noch eher sporadisch und zufällig in der Schule Eingang.
Dass man auch das Lehren lernen muss und dass dazu Arbeitstechniken für den Lehrer
genauso wie das Vermitteln von Arbeitstechniken für Schüler gehören, hat in
der Lehrerausbildung und Fortbildung noch einen viel zu geringen Stellenwert (wenn es denn
überhaupt vorkommt).
Wie ein Schulrat feststellte, sah er in etwa 500 Unterrichtsbesuchen keine zehn, in denen
Lern- und Arbeitstechniken Gegenstand waren. Dagegen wurden aber in fast jeder Stunde
gewisse Arbeitstechniken als selbstverständlich vorausgesetzt.
Wie die Faust auf's Auge passt zu den diversen Bemühungen um eine andere Lernkultur dagegen der Ratschlag der in NRW vom Ministerium mit der Untersuchung der Lehrerarbeitszeit beauftragten Unternehmensberatung Mummert und Partner: "Größere Klassen, mehr Unterricht per Computer, 'Vorlesungen' für mehrere Parallelklassen durch einen Lehrer" (zitiert nach RP 24.2.1999), alles angeblich um die Lehrer zu entlasten.
War der Mathematikunterricht nicht nur didaktisch und methodisch nicht gerade up to date, sondern auch inhaltlich ein Bollwerk der reinen Theorie und des Vermittelns von Strukturen und Fertigkeiten, so gab es in den letzten Jahren verschiedene Reformtendenzen. Zum einen gibt es seit längerem Anstrengungen für eine Anwendungsorientierung, die auf Schulebene stark mit der MUED verbunden sind und auf Hochschulebene mit ISTRON und den Aktivitäten von Prof. Blum. Zu einem durchgängigen Konzept ist es aber noch nicht gekommen und es ist auch durchaus umstritten, ob eine ausschließliche Anwendungsorientierung dafür tragfähig ist.
Im Nachbarland Niederlande gibt es schon lange eine völlige Neukonzeption des GK-Unterrichts,
die unter dem Namen 'Wiskunde A' läuft. Im
Mathe-Treff finden Sie Informationen und Aufgaben
in der Rubrik 'Blick über den Zaun'.
Zum anderen gab es auf methodischer Ebene Bestrebungen für einen themenkreismäßig
und mehr projektartig organisierten Unterricht,
die beispielsweise in den neuen S I-Gesamtschullehrplänen NRW ihren Niederschlag
gefunden haben.
Das Erstarken des pädagogischen Konstruktivismus führte weiter dazu, dass es vermehrt
Ansätze zum selbstständigen und eigenbestimmten Lernen gibt, wobei die
neuen Technologien eine besondere Rolle spielen.
Hierzu gibt es in letzter Zeit in verschiedenen Bundesländern Schulversuche,
z.B. das BLK-Projekt SEMIK
oder in NRW das
SelMa-Projekt. In diesem Bereich
ist unser Nachbarland Schweiz uns um viele Jahre voraus und hatte ein Modellprojekt 'Schule Aargau'.
Dies Projekt ist auch nicht unumstritten. Beispielsweise stellte Uhl in seiner kritischen
Untersuchung "Zur Wirksamkeit neuer Lehr- und Lernverfahren" über das 'Leitbild Schule
Aargau' die Frage 'Bewirken die neuen Lehrverfahren tatsächlich das, was
von ihnen erwartet wird?' und zog das Resümee: Der 'offene Unterricht' und andere
alternativpädagogisch orientierte Verfahren sind nur für eine Minderheit von
ohnehin leistungsstarken Kindern geeignet, nicht aber für die Mehrheit der Schüler.
Voraussetzungen sind dabei überdurchschnittlich ausgebildete und engagierte Lehrer.
Für den weniger guten Schüler und den durchschnittlichen Lehrer ist der klassische
lehrergeleitete Unterricht effektiver. Abschließend stellt er fest: "Gegen die neuen
Lernverfahren ist solange nichts einzuwenden, wie sie in Maßen und als Ergänzung
und Auflockerung des traditionellen Unterrichts eingesetzt werden. Sie tragen zur
Methodenvielfalt bei, die sich oft als motivations- und leistungssteigernd erwiesen hat.
Aber sie sind kein Ersatz für den herkömmlichen Unterricht, wie manchmal
angenommen wird."
Dass es im Mathematikunterricht Reformen geben muss, ist eigentlich schon lange in der didaktischen Diskussion. Das schlechte Abschneiden in internationalen Vergleichsstudien (TIMSS) hat in letzter Zeit dazu geführt, dass vermehrt nicht nur über Inhalte, sondern auch über Methoden und Lehrverfahren nachgedacht wird. Prof. Weinert vom Münchener Max-Planck-Institut hat dazu grundlegende Ausführungen zu 'Lernkultur im Wandel' und 'Ansprüche an das Lernen in der heutigen Zeit' gemacht und 10 Thesen zu Ansprüche an das Lernen in der heutigen Zeit aufgestellt. Von Prof. Heymann gibt es fachspezifisch in Was ist guter Mathematikunterricht? fünf Leitgedanken für einen (guten) allgemeinbildenden Mathematikunterricht.
Eins der Ergebnisse von TIMSS und der zugehörigen Video-Studie ist, dass es fundamental
für ein erfolgreiches Lernen ist, eine Balance zwischen Eigentätigkeit von Schülern
und Anleitung durch Lehrer zu finden. Lauf Weinert 'zeigen praktisch alle verfügbaren
Unterrichtsstudien die Wichtigkeit einer lehrergesteuerten, aufgabenorientierten und effektiven
Instruktion'.
Während im deutschen Unterricht die Monotonie des fragend-entwicklenden Unterrichtsgesprächs
dominiert, zeigen beispielsweise die japanischen Stunden einen planmäßigen und gekonnten
Wechsel der Phasen und Methoden.
Anregungen zum Einsatz neuer Medien im Fachunterricht und zur Einbeziehung in die Methodenschulung (Klippert) gibt der Tagungsband Neue Medien - Neue Lernkultur der e-nitiative.nrw.
© Elschenbroich, Mathe-Werkstatt 01/2004