MU & Koedukation


1965 wurde an den staatlichen Schulen in Deutschland die Koedukation eingeführt. Die Verwirklichung von Chancengleichheit der Geschlechter blieb aber als Thema auf der Tagesordnung.

"Seit einem Vierteljahrhundert gibt es in Mathematikdidaktik, Unterrichtsforschung, Psychologie und verwandten Disziplinen eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema 'Mädchen und Mathematik'. In dieser Zeit hat sich die Fragestellung beachtlich gewandelt: In den 60er Jahren war die Forschungsfrage:
Warum können Mädchen oder Frauen in Mathematik nicht so viel Jungen oder Männer?; in den 70er Jahren hieß es: Warum leisten sie weniger?; und in den 80er Jahren wurde gefragt: Warum wollen Mädchen nicht so viel leisten wie Jungen?" 
(C. Keitel.)

Der ursprüngliche Defizit-Ansatz (Mädchen als Mängelwesen, die an den Normen der Jungen gemessen werden und daran anzupassen sind) gilt mittlerweile als überholt.
Heutzutage herrscht ein sozialisiationstheoretischer Differenzansatz vor: Man untersucht die Interessen und Herangehensweisen und fragt nach Faktoren, die die Entwicklung unterschiedlicher Interessen und Fähigkeiten beeinflussen.
Hierbei sind auch Rückkopplungseffekte zu untersuchen. Konstruktivistische Lerntheorien deuten die relative Abkehr der Mädchen von der Mathematik als "Resultat einer sich nicht oder seltener erfüllten Chance auf befriedigend erlebte Konstitution des Wissens im Mathematikunterricht". (H. Jungwirth)

Gelegentlich wird auch eine Benachteiligung der Mädchen in Abrede gestellt. Dies bezieht sich darauf, dass insgesamt mehr Mädchen als Jungen Abitur machen (54 %), Jungen häufiger sitzenbleiben als Mädchen, Mädchen insgesamt signifikant besserer Noten haben (S II: im Schnitt 0,37 besser) und nur in Mathematik und Naturwissenschaften etwa gleiche Noten haben, dass Mädchen sprachbegabter sind deshalb eher Sprachen wählen und infolgedessen für mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer dann weniger Raum bleibt.
Dieser Ansatz der Benachteiligung der Jungen spielte bisher in der didaktischen Forschung keine nennenswerte Rolle. Vorsichtige Überlegungen kamen zuerst von Faulstich-Wieland, Ansätze in eine neue Richtung jugendgerechte Schule statt mädchengerechte Schule wurden auch von Preuss-Lausitz eingebracht.

In der aktuellen Koedukationsdebatte werden vorwiegend folgende Argumente angeführt:

Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen in Leistung und Selbsteinschätzung wurden auch kürzlich im Rahmen der TIMS-Studie untersucht; mit biologischen Unterschieden in der Arbeitsweise der Hirnhälften beschäftige sich der Spiegel vom 21.6.99.

Die Pädagogin M. Horstkemper stellte fest: "Die koedukative Schule trägt dazu bei, die Geschlechterhierarchie immer wieder neu zu reproduzieren."
Dabei wird z.B. darauf verwiesen, dass 40% der Informatik- und Chemie-Studentinnen aus Mädchengymnasien kamen, obwohl diese nur 4% der weiterführenden Schulen ausmachen.

Als Gegenmittel wird die "Demontage traditioneller Männlichkeit" propagiert:
"Wichtig ist es, den Jungen klarzumachen, wie sie selbst durch die Geschlechtsrollenklischees in ihrer persönlichen Entwicklung behindert und in ihren Erlebnis- und Verhaltensweisen eingeschränkt sind." (S. Jahnke-Klein)
In NRW gibt beispielsweise zwei Förderprogramme des Frauenministeriums "Selbstbehauptung für Mädchen an den Schulen" und "Anti-Aggressiontraining für Jungen", die mit 1500 DM pro Schule gefördert werden.

Als organisatorische Maßnahme ist derzeit die reflexive Koedukation aktuell: Jungen und Mädchen sollen in Fächern wie Mathematik, Info, Physik/Chemie zeitweise getrennt unterrichtet werden.
Diese ist aber auch nicht unumstritten.
"Letztlich werden damit beiden Geschlechtern pauschal Defizite bescheinigt: Das Leistungsdefizit der Mädchen kann wegen der sozialen Defizite der Jungen im gemeinsamen Unterricht nicht kompensiert werden. ... Gefördert werden muss eine geschlechterbewusste Pädagogik .... Organisatorische Trennung behindert solche innovative Entwicklungen her als sie zu stützen", so die Pädagogin M. Horstkemper.

Die ansonsten vorgeschlagenen didaktischen Maßnahmen sind:
individuelleres Unterrichts-Tempo, Raum für kreative Darstellungen, Freiarbeit, Gruppenarbeit, Projektarbeit.
Dies knüpft an reformerische Bestrebungen an, wie sie seit Reformpädagogik, seit der Curriculumreform-Bewegung der 70er Jahre und aktuell in der TIMSS-Diskussion immer wieder benannt worden sind.
"Vorschläge, den Mathematikunterricht für Mädchen zu verbessern, erweisen sich damit als unmittelbar verknüpft mit den Problemen einer allgemeinen Verbesserung des Mathematikunterrichts. Das Thema Mädchen und Mathematik ist ein Indikator der nach wie vor bestehenden Defizite des Mathematikunterrichts, ein Alarmsignal, das ihre Bedeutung besonders dringend anmahnt." (C. Keitel)
Es stellte sich heraus, "daß sich die Kriterien für einen Unterricht, der in gleicher Weise an Mädchen und Jungen orientiert ist, im wesentlichen mit den Forderungen decken, die in Folge der TIMS-Studie zur Verbesserung des Mathematikunterrichts erhoben wurden." (C. Niederdrenk-Felgner)

Damit scheint sich jetzt in der didaktischen Diskussion nach einer patriarchalischen Phase (Mädchen sind für Mathematik weniger begabt) und nach einer feministischen Phase (den Mathematikunterricht nach den Interessen der Mädchen umgestalten) eine curriculare Phase heraus zu entwickeln (einen guten Mathematikunterricht konzipieren, das nützt Mädchen und Jungen).

Der neue Lehrplan S II in NRW hat in seiner Gesamtkonzeption eigentlich schon den Sprung in diese curriculare Phase getan, steht aber in den Formulierungen des Abschnitts, der sich explizit mit Mädchen und Jungen im Mathematikunterricht beschäftigt, noch mit einem Bein auf den Wagenschein'schen Positionen.

 

 

Literaturtipps

 


© Elschenbroich, Mathe-Werkstatt 04/2001